Alle Korrekturen in Hinblick auf Windrichtung, Windstärke und Luftdruck hatte er sowieso schon berücksichtigt und an seiner Zieloptik eingestellt. Dadurch war ein Fehlschuss nicht möglich. Dennoch stimmte irgendetwas nicht. Wie immer schaute er, nachdem er den Abzug sanft durchgezogen hatte, noch weiter durch die hochwertige Optik seines Zielfernrohrs. Das Ziel verhielt sich so, als ob nichts geschehen war. So als ob er eine Platzpatrone abgefeuert hätte. Hatte er nicht.
Im Gegenteil, er stellte seine Patronen selbst her. Jede einzelne mit größter Sorgfalt und das seit mehr als 20 Jahren. Noch nie hatte eine Patrone versagt. Noch nie hatte er vorbeigeschossen. Er blickte immer noch auf das Ziel und konnte nicht verstehen, warum nichts passierte. Keine Sicherheitsleute, die sich auf beide Politiker warfen und sie von der Bühne zerrten. Keine Notabschaltung der Lampen. Keine Revolverhelden, die sich mit gezogenen Waffen in Zangenform um die Schutzbefohlenen positionierten. Nichts!
Nichts hatte sich verändert, obwohl er geschossen hatte. Da war er sich ganz sicher. Die Patronenhülse war ausgeworfen worden, den vertrauten, leichten Rückschlag hatte er deutlich an seiner Schulter gespürt, aber es änderte sich nichts im Zielbereich.
Mit gestresster Verwunderung, wenn es so etwas überhaupt gab, griff er nach dem Fernglas, einem Ednar -6×42-Militärfernglas von Leica und versuchte damit zu erkennen, was da vorne los war. Die Szene war nach wie vor unverändert. Beide Regierungsoberhäupter unterhielten sich ungezwungen weiter. Sie waren derzeit die populärsten in Europa, wenn nicht sogar in der ganzen Welt. Er hatte eine Million für den Schuss auf den Mann erhalten. Zwei Millionen, wenn er auch die Frau danach noch erwischte. Das hatte er abgelehnt. Es war zu unsicher, denn wenn die Personenschützer wie trainiert reagieren würden, käme er gar nicht mehr dazu eine weitere Kugel abzufeuern. Deshalb hatte er die zwei Millionen gleich verworfen. Aber im Moment ging es gar nicht um die zweite Kugel. Von der ersten Kugel war weit und breit nichts zu sehen. Er konnte sie nicht verfehlt haben.
Am Rande der leicht erhöhten Bühne, auf denen die beiden vor laufenden Kameras und vor einer grünen Rückwand diskutierten, bemerkte er plötzlich einen roten Lichtstrahl. Das rote Licht flackerte in seine Richtung. Zuerst dachte er, dass es auf dem virtuellen, computergenerierten Hintergrund, der auf die grüne Fläche hinter den Politikern projiziert wurde, stammte. Diese Hintergründe würden von den Fernsehzuschauern als echt wahrgenommen, obwohl es nur virtuelle Einblendungen waren. Der grüne Hintergrund war lediglich nötig, damit die Kameras das virtuelle Bild erkennen konnten. Das war nichts Neues mehr in der heutigen Zeit.
Auf einmal sah er noch mehr dieser Lichtstrahlen. Er nahm das Fernglas runter und versuchte mit bloßem Auge zu sehen, was da vor sich ging. Das rote Licht verschwand. Er riss das Leica-Fernglas wieder hoch und sofort zeigte die Optik die roten Lichtstrahlen. Sie schienen von mehreren Stellen zu kommen, aber alle zeigten auf ihn.
Heilige Scheiße, es waren Laserstrahlen, die sich an seinem Standort schnitten. Sie hatten ihn im Visier, nicht er sie. Er befand sich genau im Schnittpunkt der Laserstrahlen. Es würde wahrscheinlich nur Minuten dauern, bis sie da waren.
Er nahm sein Gewehr, sprang auf und rannte zum Treppenhaus. Von unten hörte er Schritte. Schwere Stiefel schlugen im Laufschritt an. Er musste hinauf. Er sprintete zur Treppe nach oben. Rannte die Stufen hoch. Vierter Stock, fünfter, sechster und dann ins Obergeschoß.
Die Kugeln pfiffen ihm um die Ohren. Mit HK-MP7- Maschinenpistolen schossen sie auf ihn. Sofort zog er seinen Kopf hinter die Tür und rannte nach rechts weg. Sie würden ihn nicht kriegen. Er war ja kein Amateur und hatte natürlich einen alternativen Plan. Die Bauschuttrutsche.
Er tauchte wieder nach rechts weg, rannte über den kleinen Flur und trat im Laufen die provisorische Tür am Ende des Flurs auf. Kaum, dass sie aufgeflogen war, sprintete er geradeaus durch zum Schlafzimmer – wahrscheinlich sollte es ein Schlafzimmer werden, aber in einem Neubau war das ja nicht eindeutig zuzuordnen – und sprang sofort mit den Füßen voran in die Bauschuttrutsche. Kein besonders sauberer Abgang und auch nicht besonders angenehm, aber hey, er musste weg.
Mit einen Bumms landete er im Schuttcontainer in den er schon am Vormittag eine Landung Fieberglaswolle gepackt hatte. Er hätte keine Lust gehabt auf Ziegelsteinen und Mauerbruch zu landen. Erst denken, dann springen. Just in case, wie man so schön sagte. Nun, der Fall war eingetreten. Wider allen Erwartungen war er eingetreten.
Zu hören war nichts, keine Sirenen, keine Kommandos. Vielleicht hatten sie diesen Ausweg nicht gesehen, diese Fluchtmöglichkeit nicht einkalkuliert. Er wusste es nicht, hatte aber ein schlechtes Gefühl. Da er aber sowieso nichts tun konnte, außer aus dem Container zu steigen und auf gut Glück zu hoffen, sprang er aus dem Blechkasten auf die Straße und rannte los.
Dann fiel er hin. Er hatte sich in einem Netz verfangen. Wie ein Fisch im Meer, nur dass er hart auf die Straße knallte.
„Protect 7 hat ihn“, hörte er einen Mann in seiner Nähe sagen.
…
„Verdammt, Alpha Six, steckt du dahinter?“
„Sie haben dich verarscht, Stan.“
Steady Stan schaute ein bisschen verwirrt. Eigentlich hieß er Stanislav Koshlivac. Ein in Insiderkreisen durchaus bekannter Scharfschütze, der sowohl für die eine als auch für die andere Seite schoß. Je nachdem, wer am meisten zahlte. Sein Gott war das Geld. Alles andere interessierte ihn nicht. Höchstens noch Gold oder Diamanten und neuerdings auch Bitcoin.
Steady Stan schaute sich um und fand, dass er in einem Kellerraum saß, der irgendwie am oberen Rand rundum eine ca. 30 Zentimeter hohe Fensterschicht hatte, gerade so als ob der Raum unter der Erde war –bis zu der Fensterschicht. Oder der Raum stand ebenerdig und die Fenster waren oben vor der Decke angebracht, sodass Licht einfiel, aber niemand reinschauen konnte. Komischer Raum. Stan saß auf einem Stuhl, der alleine mitten im Raum stand und natürlich war er mit Handschellen an den Stuhl gefesselt. Und dieser war am Boden festgeschraubt.
„Das ist aber nicht legal, was du hier mit mir machst“, knurrte er, nachdem er an den Handschellen gerüttelt hatte.
„Die haben die verarscht, vollkommen verarscht und du bist darauf reingefallen.“
„Wer hat mich verarscht?“
„Das ist es, was mich interessiert“
„Soll ich jetzt einen Anwalt verlangen?“
Eric Ritter, BND-Agent mit dem Einsatzcode ‚Alpha Six‘ lachte laut auf.
„Stan, mach keine Witze. Du weißt, wer ich bin und was ich mache. Hilf mir rauszufinden, wer dich in die Falle gelockt hat und ich sehe, was ich machen kann.“
„Du weißt, wie das Spiel funktioniert.“
Und ob Stan das wusste. Er hatte vor ein paar Jahren sogar mit Ritter zusammengearbeitet. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Damals war es eine Zweckgemeinschaft gewesen, aber jetzt hatte er einen Mordanschlag auf zwei europäische Staatsoberhäupter an der Backe und verstand immer noch nicht, was schiefgegangen war. Irgendetwas stimmte überhaupt nicht.
Ritters Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.
„Du versuchst herauszufinden, warum du vorbeigeschossen hast und wie wir dich geschnappt haben“, stellte er fest. „Du wirst es nicht herausfinden, aber sei sicher, dass es ein abgekartetes Spiel war und deine Auftraggeber gewonnen haben.“ „Wie können sie gewonnen haben, wenn das Ziel noch lebt?“ „Außerdem habe ich nicht vorbeigeschossen – das wäre das erste Mal.“ „Sag mir, wer dir den Auftrag gegeben hat und ich kümmere mich um ihn.“ „Ich habe noch nie vorbeigeschossen und ich habe auch noch nie einen Auftraggeber verraten. Das weißt du ganz genau und du weißt auch, dass ich damit nicht jetzt anfangen werde.“ „Die haben dich einfach verarscht.“
Weiter lesen im Buch …